Sie sind hier

Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein

© Ulli Lust / Suhrkamp Verlag

Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu seinvonUlli Lust

Suhrkamp Verlag

Leseprobe

Ulli Lust, Mitte zwanzig, angehende Künstlerin in Wien, liebt zwei Männer: Den zwanzig Jahre älteren Schauspieler Georg, mit dem im Bett aber nichts mehr läuft, und den nigerianischen Flüchtling Kimata, den sie auf einer Party abschleppt, und zu dem sie in sexueller Leidenschaft entbrennt. Dann ist da noch ein dritter Mann im Hintergrund, ihr Sohn Philipp, fünf, der bei seinen Großeltern auf dem Land aufwächst. Das ist ein Beziehungsgeflecht mit großem erzählerischem, emotionalem und dramatischem Potenzial, und Ulli Lust entfaltet mit ihren direkten, skizzenhaften Zeichnungen eine Dringlichkeit und einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Mit „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ über eine selbstzerstörerische Italienreise als Teenager sorgte Ulli Lust weltweit für Furore. Nun enthüllt die in Berlin lebende Österreicherin ein weiteres Kapitel aus ihrer Jugend: In „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ verarbeitet sie eine explosive, in einem Mordversuch gipfelnde Ménage-à-trois im Wien der frühen Neunzigerjahre.
Tabu- und schonungslos dringt sie tief ein in dunkelste Abgründe und verknüpft ihre Erfahrungen mit großen Themen: Liebe und Sex über Alters- und Kulturgrenzen hinweg, die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, alternative Familien- und Beziehungsmodelle, ethnische Vorurteile, Flüchtlingspolitik und der Traum von einer anderen Gesellschaft.
Das ist überzeugend, weil Ulli Lust sich weder als Opfer noch als Täterin zeichnet, sondern als junge, streckenweise reichlich naive, egoistische und sexuell anspruchsvolle Frau, die von der Situation und ihren Rollen als Gefährtin, Liebhaberin und Mutter überfordert ist.
Dass Lust sich traut, kulturelle Vorurteile aufzugreifen und zu den Ambivalenzen in ihrer Wahrnehmung zu stehen, statt sie politisch korrekt abzuschleifen, ist ihr hoch anzurechnen. Ihr afrikanischer Liebhaber erträgt ihre Unabhängigkeit immer weniger und seine Eifersucht und Ansprüche führen zu Gewaltausbrüchen, die sie in Angst und Schrecken versetzen – und doch lässt sie ihn immer wieder in ihr Bett. Lusts Versuch, inmitten dieser verworrenen Situation „gut“ zu sein, muss als gescheitert betrachtet werden, dafür ist ihre Reflektion dieser Lebensphase ein künstlerischer Erfolg.

Christian Gasser